Hermann Nitsch
der Aktionist
„Ein Meer, das gerade aufgehört hat, zu wogen – unter einem unverschämt großen Himmel.“ So fühlt sich das Weinviertel für Alfred Komarek an, als er vor 50 Jahren Stadtflucht betreibt – dem jungen Mann aus dem Salzkammergut ist es nicht gelungen, Wiener zu werden. Mit einer Ente überquert er die Donau nordwärts und findet sich in einer Landschaft wieder, die er als andere Welt wahrnimmt. „Die Beiläufigkeit, mit der hier drei oder vier Straßen zu einem Ziel führen. Die Unbestimmtheit, die Freiheit. Nicht eingeengt zu sein, irgendwie zu navigieren, in dieser meerhaften Welligkeit.“ Staunend nimmt Komarek das Weinviertel zur Kenntnis. Niemals lässt es ihn wieder los.
„Unsriger bist Kana. Aber her gheast scho.“, sagt ihm sein Weinviertler Nachbar viele Jahre später. Von seinem letzten Ersparten hat sich Komarek ein kleines Presshaus gekauft. In einer malerischen Kellergasse gelegen, wird es sein Zufluchtsort – von hier aus will er das Land erkunden, erforschen, mit allen Sinnen spüren. Fasziniert begibt er sich auf eine Spurensuche durch die Weinviertler Geschichte – und erkennt, „dass sich das Weinviertel treu blieb, weil es sich treu bleiben musste.“ Jahrhunderte lang erlebte es Unsicherheit, war schutzlos allen Windrichtungen ausgeliefert. „Eine eigene Küche oder eine eigene Tracht konnte sich hier nicht entwickeln – weil für solch kulturelle Hedonismen schlicht keine Zeit blieb.“ Komarek entdeckt die Schwäche des Weinviertels, eigene Stärken erst dann zu erkennen, wenn sie ein Fremder erkennt. Er sieht aber auch die historisch gewachsene Begabung mit dem Wandel umzugehen, den robusten Pragmatismus, mit dem hier Lebenswelten geändert wurden, dem Diktat der Notwendigkeit folgend. Und er sieht das Einzigartige in der Landschaft, in den Menschen, im Wein – das Erbe, das bewahrt wurde und das man nun wortwörtlich in vollen Zügen aus-kosten kann.
Komarek revanchiert sich auf seine Weise. Er schenkt dem Weinviertel einen Gendarmen, der nicht nur österreichische Krimigeschichte schreibt, sondern dabei auch zum Botschafter unserer Weinviertler Lebensart wird: Simon Polt ermittelt in den Kellergassen des fiktiven Wiesbachtals, dem das Pulkautal als Vorlage dient – zwischen 1998 und 2015 erscheinen sieben spannende Bücher, sechs davon werden mit Erwin Steinhauer verfilmt und erreichen ein Millionenpublikum. Die Geschichten begeistern mit sensibler Tiefe abseits vordergründiger Klischees, in Komareks Sprache findet sich die Faszination des distanzierten Betrachters wieder. Er will nichts schönfärben – aber auch nicht untertreiben. Er sieht sich als Gast, der hier leben will und hier leben darf. Als Beobachter.
„Das Weinviertel ist keine Kulissenwelt wie vielerorts anderswo. Es ist echt, es ist authentisch.“, sagt Komarek heute. Dies zu bewahren und gegen die Langeweile internationaler Gleichmacherei zu verteidigen – darin sieht er die größte Herausforderung für uns Weinviertlerinnen und Weinviertler: „Wenn der Dorfwirt international kocht und der Haubenkoch regional – dann sollte uns das was sagen.“ Doch Komarek bleibt zuversichtlich. Vieles, das er heute sieht, hätte er früher nicht für möglich gehalten, damals vor 50 Jahren, als er mit seiner Ente nordwärts über die Donau fuhr, dem ruhenden Weinviertler Meer entgegen. „Das Miteinander ist lockerer geworden. Eine neue Generation von Winzern hat die Nase im Wind.“ Die Begeisterung ist dem Schriftsteller geblieben. „Das Weinviertel blendet nicht mit oberflächlichem Chic. Vielmehr zieht es sich treue, langjährige Freunde heran.“ Freunde wie Alfred Komarek.