Situation heute
Wusstest du, wie verzahnt wir heute mit unseren Nachbarn sind?
Noch in den 80er Jahren verlaufen über 200 Kilometer des Eisernen Vorhangs entlang der nördlichen und nordöstlichen Grenze des Weinviertels. Die damalige Tschechoslowakei ist ein Bruderstaat der Sowjetunion – seit der blutigen Niederschlagung des als „Prager Frühling“ bekannt gewordenen Volksaufstands im August 1968 besteht daran für die Tschechen und die Slowaken kein Zweifel mehr. Ebenso klar ist, was mit jenen geschieht, die es wagen, einen Fluchtversuch zu unternehmen, um das Arbeiter- und Bauernparadies gen Westen zu verlassen: Schon auf die reine Planung der Flucht stehen bis zu 10 Jahre Haft.
Immer wieder gibt es dennoch Wagemutige, die versuchen, den eisernen Vorhang zu überwinden und dem kommunistischen Gefängnis zu entkommen – teils auf abenteuerliche Art und Weise. Im Sommer 1983 startet eine Familie (Vater, Mutter und zwei Jungen) ihre atemberaubende Flucht in einem selbstgebastelten Heißluftballon, dessen Hülle aus Regenmänteln bestand – und landet trotz Beschuss durch tschechoslowakische Grenzsoldaten sicher und unverletzt in einem Weingarten bei Falkenstein. Ein Jahr später überfliegt ein tschechoslowakischer Technikstudent den eisernen Vorhang mit seinem selbstgebauten Kleinflugzeug, um kurz darauf am Flughafen Schwechat zu landen. Und wenn auch nicht alle Fluchtversuche glücken – so zeugen sie doch vom Unwillen der Tschechen und Slowaken, ihr Eingesperrtsein hinzunehmen.
Aber auch auf Weinviertler Seite ist der eiserne Vorhang verhasst. „Wo es keine Möglichkeit zur Nachbarschaft gibt, wo es keinen menschlichen Kontakt geben darf – dort kann sich eine Region nicht entwickeln.“, erinnert sich Erwin Pröll. Er stammt aus einer Winzerfamilie in Radlbrunn und ist ab 1981 stellvertretender Landeshauptmann in Niederösterreich. Als Weinviertler sieht er sein Weinviertel an den geografischen Rand der westlichen Welt gedrängt. Die Entwicklung stagniert, viele Gemeinden kämpfen mit Abwanderung. Schon 1976 schreibt Pröll seine Dissertation zum Thema „Die Chancen des Grenzlandes am Beispiel des Bezirkes Hollabrunn“ und beschäftigt sich darin intensiv mit der schwierigen Lage in seiner Heimat. Die Probleme stehen damals auf seiner landespolitischen Agenda – aber sie beschäftigen ihn auch privat. „Ich empfand die Trennung als ungerecht – für beide Seiten,“, sagt Pröll, „Ich wollte mich einfach nicht damit abfinden.“ Abseits seiner politischen Funktion startet er in den frühen 80er Jahren eine friedliche Protestaktion. Zu Weihnachten kauft er ein kleines Christbäumchen und versammelt sich mit einer kleinen Gruppe privater Freunde vor dem schwer bewachten Grenzübergang Kleinhaugsdorf. Allein geht er dann mit dem Christbäumchen in der Hand auf die tschechoslowakischen Grenzsoldaten zu. „Das erste Mal war ich zugegebenermaßen ziemlich nervös“, gesteht Pröll. Doch sein Plan geht auf. Distanziert aber ruhig nehmen die Grenzer hin, wie Pröll das Bäumchen vor ihnen abstellt: „Wir möchten uns gerne mit unseren Nachbarn verständigen. Frohe Weihnachten.“ Jedes Jahr zu Weihnachten wiederholt Pröll die Aktion, immer verwendet er dieselben Worte. „Nach dem eher unterkühlten Empfang in den ersten beiden Jahren wurde ich dann irgendwann schon erwartet.“, erinnert sich der spätere Spitzenpolitiker. „Erst im letzten Jahr vor der Wende haben sie mich endlich in ihr Zollhaus hereingebeten und wir haben gemeinsam Kaffee getrunken.“ Das Eis, es hatte zu schmelzen begonnen, langsam – aber doch.